Uebersicht ueber Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen zu ethnogenetischen Prozessen
Die graphoanalitische Methode ermöglicht, mit Hilfe des aus verschiedenen Wörterbuchtypen erhobenen lexikalischen Materials die Abstammung und die uralte Entwicklung der Sprachen zu untersuchen. Die Idee besteht in der geometrischen Interpretation der Bezüge zwischen den verwandten Sprachen auf Grund einer quantitativen Bewertung der Spracheinheiten, die für Sprachpaare einer Sprachfamilie oder -gruppe gemeinsam sind. Die höhere Verwandtschaft der Sprachen wird generell mit größerer Zahl gemeinsamer Spracheinheiten verbunden, davon eignen sich gemeinsame Wörter zur statistischen Auswertung am besten. Der Methode liegt die Annahme zugrunde, dass für ein Sprachpaar die Anzahl gemeinsamer Wörter und der Abstand zwischen den Arealen, wo diese Sprachen entstanden, umgekehrt proportional sind. Einfacher gesagt: je näher zueinander die Träger zweier verwandter Sprachen gewohnt hatten, über desto mehr gemeinsame Wörter verfügen sie. Natürlich werden dabei alte, zu prähistorischen Zeiten verwendbare Wörter ausgewertet und nicht diejenigen, die später auf höheren Stufen der Zivilisationsgeschichte entstanden. Alte Wörter zu bestimmen, ist nicht einfach aber möglich, dazu gibt es verschiedene Methoden. Nachdem in allen Sprachen der zu untersuchenden Sprachfamilie notwendige Wörter ausgewählt worden sind, geht man zur Untersuchung über. Zunächst muss der familienallgemeine lexikalische Bestand bestimmt werden, der ein Merkmal der sprachlichen Gemeinschaft ist, nichts aber über den Grad der Verwandtschaft zwischen einzelnen Sprachen verrät. Er wird nicht berücksichtigt. Sonstige Wörter können für zwei oder mehr Sprachen gemeinsam sein, wir zählen jedoch Wörter in Sprachpaaren unabhängig davon, ob sie in einer oder mehr anderen Sprachen auftauchen. Nach solcher Wortzählung für alle möglichen Sprachpaare wird ein graphisches Modell der Verwandtschaft erstellt, das die Lage der Areale einzelner Sprachen innerhalb des gemeinsamen Areals der jeweiligen Sprachfamilie wiedergibt. Jedem Areal entspricht eine Ballung von Knoten des erhaltenen Graphen, die aus Enden der Kanten (Abschnitten) besteht, deren Länge zur Anzahl gemeinsamer Wörter einer Sprachpaar umgekehrt proportional ist. Die Kantenzahl ist gleich der Anzahl von Sprachpaaren, die Anzahl der Knoten ist um eine Einheit geringer als die Sprachzahl. Das Verfahren zur Graphenerstellung ist nicht kompliziert, dazu braucht man nur die grundlegenden Geometriekenntnisse.
In der nächsten Etappe wird für das erhaltene graphische Arealmodell auf einer geographischen Karte der entsprechende Platz mit mehr oder wenig deutlichen Grenzen gesucht, welchen natürliche lineare Objekte wie Flüsse oder Gebirgsketten sein können. Natürliche Schranken erschweren die Kommunikation zwischen den Bewohnern unterschiedlicher Areale und somit den Austausch von Neubildungen, was zu einer Differenzierung der menschlichen Ursprache führt. Je weiter voneinander Areale liegen, desto größer der Unterschied zwischen den Sprachen deren Bewohner ist. Auf der Erde gibt es nicht so viele Orte mit Arealballung, die wir als ethnobildende bezeichnen. Deren Suche ist somit nicht allzu kompliziert. Auf den ersten Blick kann es erscheinen, dass ein erstelltes graphisches Modell im beliebigen Ort zu platzieren ist, dies ist aber nicht der Fall. Wie zwei aus Quadraten und Dreiecken gebildete Raster miteinander nicht zu überlappen sind, so lässt das graphische Modell mit einem ihm nicht entsprechenden Platz auf der geographischen Karte nicht überdecken. Die Tatsache, dass ein Modell seinen Platz auf der Karte gefunden hat, ist an und für sich aussagekräftig.
Im Zuge der Untersuchung konnte man zu folgendem allgemeinem Bild der Entstehung und Entwicklung von Sprachen kommen: In wenigen Herden der menschlichen Zivilisation entstehen einzelne Ursprachen, die im Verlauf der Geschichte einem komplizierten Gliederungsprozess augesetzt werden. Auf der ersten Etappe entwickeln sich aus einer Ursprache mehrere verwandte Sprachen der unteren Ebene. Wenn sich die Träger dieser neuen Sprachen auf größeren, mit geographischen Schranken zu einzelnen Arealen geteilten Gebieten niederlassen, beginnt der ähnliche Prozess zur Bildung der Sprachen einer höheren Ebene. So was kann selbst im gleichen Areal mehrmals passieren. Gleichzeitig werden einige Sprachen, deren Träger stetig ein kleineres Gebiet besiedeln, weiter nicht mehr gegliedert. Je länger eine Menschengemeinschaft in einem Ort lebt, desto mehr kennzeichnende Merkmale bekommt ihre Sprache. Somit können genetisch verwandte Sprachen entweder mehr oder weniger gemeinsame Merkmale aufweisen. Es wird vermutet, dass eine der primären Ursprachen das s. g. Nostratisch war, das sich zu sechs Einzelsprachen teilte, wovon später indogermanische, uralische, chamitisch-semitische, drawidische, kartwelische und turkische Sprachen entstanden. Das erstellte graphische Modell von sechs Sprachen der nostratischen Überfamilie ermöglichte, ihre Bildungsareale in Kleinasien und Transkaukasien ringsum und in der Nähe dreier Seen – Wan, Sewan und Urmia (Resaje) – zu bestimmen. In der Mitte dieses Gebiets befindet sich der Bibelberg Ararat. Etwas nördlicher in den Tälern des Kaukasusgebirges bildeten sich adyge-abachsische, weinachische und dagestanische Sprachen.
Anfang des 5. Jahrtausend v.u.Z. begannen die meisten Träger der nostratischen Sprache neue Gebiete zu erschließen. In der alten Urheimat blieben die Kartwelen, Vorfahren der heutigen Georgier und wahrscheinlich Reste anderer Völker. Die Chamito-Semiten und Drawiden gingen nach Süden, die Träger der indogermanischen, uralischen und turkischen Ursprachen zogen nacheinander über den Derbentischen Gang zum Nordkaukasus und ließen sich allmählich an der Osteuropäischen Ebene nieder, sich an die heimische Bevölkerung assimilierend, ihr dennoch eigene vollkommenere Sprachen beibringend. Die für drei Sprachfamilien erstellten graphischen Sprachmodelle ermöglichten, Siedlungsgebiete der Sprachträger und Bildungsareale der Sprachen der nächsten Ebene ausfindig zu machen. Das ganze Territorium Osteuropas von der Weichsel bis zum Uralgebirge ist vom dichten Flussnetz zu mehreren Dutzenden ethnobildenden Arealen ziemlich deutlich gegliedert. Die Indogermanen ließen sich im Einzugsgebiet des mittleren und oberen Dnipro nieder. Hier – in den von Dnipro-, Pripjat- und Desna-Zuflüssen abgegrenzten Arealen – entstanden indogermanische Mundarten, wovon sich mit der Zeit folgende Sprachen entwickelten: Griechisch, Italisch, Germanisch, Slawisch, Baltisch, Tocharisch, Keltisch, Illirisch, Hettitisch-Luwisch, Thrakisch, Phrigisch, Armenisch, Iranisch und Indisch. Die meisten Träger der ururalischen Sprache erreichten das Uralgebirge nicht sondern ließen sich im Wolga-Gebiet nieder. In Arealen des rechten Wolga-Ufers bildeten sich solche primären finnisch-ugrischen Sprachen wie Finnisch, Estnisch, Wepsisch, Saamisch (Lappisch), Mordwisch, Tscheremissisch (Mari), Ungarisch, Udmurtisch, Komi, Wogulisch (Mansi), Ostiakisch (Chanty) sowie noch zwei oder drei Sprachen, die später verschwanden. Diejenigen Vertreter der Uraler, die über Wolga nach Norden zogen, hatten danach keine engen Beziehungen zu den restlichen verwandten Völkern, so dass sich ihre Sprache selbständig entwickelte und die Entwicklung der Sprachen einleitete, die heute als samojedische bekannt sind. Alte Turkvölker besiedelten den Raum zwischen dem unteren Dnipro und dem Don, hier wurde die gemeinsame Turksprache einer Differenzierung ausgesetzt. Es ist hervorzuheben, dass sich die Turken zu jener Zeit auf einer höheren kulturellen Stufe als die Indogermanen und Finno-Ugren befanden, da sie aktiver die produktive Wirtschaft in Form von Ackerbau und Viehzucht führten. Dementsprechend eigneten die Indogermanen und Finno-Ugren viele Wörter von Kultur- und Haushaltbedeutung bei den Turken an.
Anfang des 2. Jahrtausend v.u.Z. verlassen die meisten Turkstämme ihre Urheimat, die Räume von den Karpaten bis zum Altaigebirge allmählich erschließend. Diejenigen Turkstämme, die den Altai erreichten, kontaktierten mit den hiesigen Trägern mongolischer und tungusisch-mandschurischer Sprachen. Die reicheren und höher entwickelten Turksprachen hatten eine große Auswirkung auf die Sprachen der Einheimischen, welche sich hauptsächlich mit der Jagd und Waldfruchtsammeln befassten, d.h. auf einer relativ niedrigen Entwicklungsstufe standen. Infolgedessen weisen mongolische und tungusisch-mandschurische Sprachen sowie die genetisch verwandten Japanisch und Koreanisch einige mit den Turksprachen gemeinsamen Merkmale auf, was den Grund gibt, sie zu einer – der s. g. altaischen – Sprachfamilie zu vereinigen, obwohl die Turksprachen, wie wir sehen, genetisch zu ihr nicht gehören. Selbst der Familienname “altaisch” ist nicht gerechtfertigt, weil mongolische und tungusisch-mandschurische Sprachen im Einzugsgebiet des Amur, Koreanisch auf der Koreanischen Halbinsel und Japanisch im Fernöstlichen Küstenland entstanden. In dieser fernöstlichen Region befand sich der zweite Herd der menschlichen Zivilisation, zu welchem die Chinesen apropos nicht gehörten, weil sich die Wiege ihrer Kultur irgendwo im Mittelchina befand.
Wenn die meisten Turken ihre Gebiete zwischen dem Dnipro und dem Don verließen, setzten sich auch andere indogermanische Stämme in Bewegung. Die Hettiten, Illirier und Griechen zogen zum Balkan, die Italiker (Vorfahren der Römen, Osker, Umber und Sabeller) ließen sich nach langem Wandern auf der Apenninenhalbinsel endgültig nieder. Mit der zweiten Wanderwelle zogen zum Balkan die Phrigier, alte Armenier und Thaker (Vorfahren der Albaner), alte Inder erreichten gemeinsam mit den Tocharen Mittelasien und zogen danach zu Indostan. Die Slawen, deren Areal sich im höchsten Norden des indogermanische Gebietes befand, zogen nach Westen, blieben jedoch vor der Weichsel stehen, wenn ihre südlichen Nachbarn Kelten weiter zum Mitteleuropa gingen.
Es ist zu bemerken, dass kein Volk die besiedelten Flächen vollständig verlässt, seine Reste assimilieren sich an die zahlreichere Neuangekommene, jedoch die Sprache der heimischen Bevölkerung hinterlässt Spuren ihrer Auswirkung in deren Sprachen. Solche Auswirkung des sprachlichen Substrats in ethnobildenden Arealen beschleunigt wesentlich die Differenzierung der gemeinsamen Sprache der neuangekommenen Bevölkerung. Wenn also die Germanen, Balten und Iraner die von anderen Völkern verlassenen Flächen besetzten, vermischten sie sich mit den vorherigen Bewohnern. Die Germanen ließen sich an Arealen der Kelten, Illirier, Griechen, Italiker nieder, ihre gemeinsame germanische Sprache spaltete sich ziemlich schnell zu fünf Mundarten, aus welchen sich später Gotisch, die gegenwärtigen Englisch, Deutsch, Holländisch, Friesisch und nordgermanische Sprachen – Schwedisch, Norwegisch, Dänisch – entwickelten. Gleichzeitig erfolgte die Differenzierung der iranischen und baltischen Sprachen.
Die Turken, die auf das rechte Dnipro-Ufer übergingen (es waren alte Bulgaren, Vorfahren der Chasaren und gegenwärtigen Tschuwaschen), bewegten sich langsam nach Nordwesten und kontaktierten ab und zu mit den alten Germanen, die das Pripjat-Gebiet der besiedelten. Die alten Bulgaren lebten in engerer Nachbarschaft zu Vorfahren der heutigen Deutschen, wovon zahlreiche lexikalische Parallelen zwischen dem Tschuwaschisch und Deutsch zeugen. Diese Tatsache unterstützt die Untersuchungsergebnisse, das zusätzliche Argument besteht aber noch darin, dass sowohl die Germanen als auch die Bulgaren auf dem Boden der Westukraine zahlreiche bis zu unserer Zeit erhaltene Ortsnamen hinterlassen haben.
Zu dieser Zeit – vor Anfang des 1. Jahrtausend v.u.Z. – blieben alle Iranstämme in Osteuropa im Raum zwischen dem Dnipro und dem Don. Dann zogen die meisten dem Kaspi-Ostufer entlang in Richtung Mittelasien. Die in ukrainischen Steppen blieben, kennt die Geschichte als Kimmerier. Über Kaukasus veranstalteten sie räuberische Angriffe in Kleinasien, bis die Skythen sie dorthin für immer verdrängten, den ganzen Raum vom Dnister bis zum Don besetzend. Die Skythen kamen nicht vom Osten, wie es üblich bestimmt wird, sondern vom Westen. Es waren dieselben Bulgaren, die jetzt die Rückbewegung nach Osten anfingen und auf das linke Dnipro-Ufer übergingen. Dies kann man mit Logik, Archäologie und Linguistik beweisen. Die meisten skythischen Namen, die in historischen Urkunden (insgesamt ca. 200) auftauchen, lassen sich mit Hilfe der tschuwaschischen Sprache gut enträtseln. Darunter finden sich aber auch einige Namen, für die im Tschuwaschischen keine Parallelen ausfindig sind. Wie es sich herausstellte, haben diese Menschennamen iranische, genauer gesagt kurdische Abstammung. Darüber hinaus lassen sich einige Ortsnamen westlich des Dnipro, die mittels slawischen und tschuwaschischer Sprachen nicht zu erklären sind, mit Hilfe des Kurdischen enträtseln. Die Vorfahren der gegenwärtigen Kurden, die das alte Areal der Thrakier besetzten, zogen womöglich – wie früher Thrakier – die Desna entlang zum Dnipro herunter und erreichten sein rechtes Ufer. Hier mussten sie einige Zeit als Nachbarn der Bulgaren leben, wofür tschuwaschisch-kurdische lexikalische Parallelen sprechen. Ein Teil der Skythen hatte somit die iranische Abstammung, nicht aber alle, wie es früher bestimmt wurde.
Die finnisch-ugrischen Stämme blieben abseits der großen Volkswanderwege, sie zogen langsam nach Norden in der Reihenfolge, die von der Lage ihrer Areale in der Urheimat bestimmt war. So waren die Lapländer (Saami), denen das nördlichste Areal des finnisch-ugrischen Gebietes gehörte, die ersten, heute sind sie das nördlichste finnisch-ugrische Ethnikon. Wie die Vorfahren der Vogulen ihre Urheimat im höchsten Nordwesten besaßen, so haben die heutigen Vogulen die gleiche Lage im finnisch-ugrischen Raum. Das gleiche gilt für andere Finno-Ugren bis auf die Ungarn. Deren Urheimat zwischen dem Choper und der Medwediza lag den großen Volkswanderwegen nahe, so dass sie vom historischen Schicksal nach Mitteleuropa getrieben wurden. Da sich die meisten finnisch-ugrischen Stämme auf langes Wandern nicht begaben, hatten sie kaum Möglichkeit, große verlassene Flächen zu besetzen. Die Differenzierung ihrer Sprachen war dementsprechend nicht so entfaltet wie die der indogermanischen. Einige Sprachen blieben einheitlich, andere spalteten sich zu wenigen Mundarten oder eng verwandten Sprachen.
Zum Schluss von den Slawen. Die Slawen, die längere Zeit einen relativ kleinen Raum bewohnten, behielten ebenso lange die Einheitlichkeit ihrer Sprache. Selbst nach der Differenzierung der slawischen Sprachen ähneln sie einander mehr als z.B. germanische, deren Differenzierung viel früher eintrat. Die Gliederung der slawischen Sprachen erfolgte Anfang der christlichen Ära, wenn die Slawen das ganze ehemalige indogermanische Gebiet einnahmen. Sie vermischten sich mit den Einheimischen baltischer Abstammung, welche hier die Germanen und Iraner ersetzten und bereits eigene Einzelsprachen sprachen. Das unterschiedliche Substrat beschleunigte die Gliederung, so dass das Alter jeder Sprache rund 18 Jahrhundenten zählt.
In diesem kurzen Beitrag sind viele Details ausgelassen, die alleine nicht überzeugend sind, sich aber in das gesamte hier dargestellte Bild gut einordnen, es vollständiger und wahrscheinlicher machend.